Geduldsproben – Jesus und Popcorn


Manchmal kriegt man erst im Ausland mit, wie sehr man gewisse Klischees seiner Herkunft bedient. Diese Erlebnisse zeigen sich erst nur subtil und meist durch versteckte Gewohnheiten.
Aber manchmal führt dann plötzlich eins zum anderen und man kommt sich schrecklich Deutsch vor!







Zuallererst einmal möchte ich beteuern, dass ich viele Dinge hier in Brasilien ausgesprochen liebe!
Zum Beispiel das Straßenleben: Egal zu welcher Tages-oder Nachtzeit. Immer gibt es Straßenverkäufer, Musiker, Fußvolk, Kinder auf der Straße. Dann liebe ich die Art und Weise, wie gelassen und freundlich die Menschen hier sind. Selten wird man mal unfreundlich angepöbelt oder kassiert strenge Blicke. Ältere Menschen sehen hier irgendwie ... würdevoller und gelassener aus und bilden keine "ewig beige Armee". Das Straßenessen ist köstlich. Taxifahrer fahren nachts zügig über rote Ampeln und bremsen nur kurz ab, wenn ein Auto aus einer Seitenrichtung kommt. All das scheint auf eine magische Art und Weise aufeinander eingespielt zu sein.


Das alles geht gut, solange man mitspielt.
Aber nur solange.

Die Geduldsprüfung schlecht hin: die Kassenschlange
In Brasilien an der Kasse zu stehen, ist für mich so etwas wie die Härteprüfung schlecht hin. Ich habe es in einem Supermarkt erlebt, dass fünf Kassen besetzt waren und an jeder geschlagene (!) 2 Kunden standen. Und es hat sich nix bewegt – einfach gar nix.
Mäßig angenervt bin ich von Schlange zu Schlange gehüpft, nur um der freundlichen Unterhaltung verschiedener Kassiererinnen mit irgend einer Oma zu lauschen.
Ein Blick um mich herum: außer mir schien sich niemand anders daran gestört zu haben. Alle blieben freundlich und geduldig. Das machte mich dann gleich doppelt pissig!
In Zeitlupe kontrollierte die Verkäuferin darauf hin die Obst- und Gemüseliste, wie als sähe sie diese zum ersten Mal. Als sie sich dann auch noch beim Wechselgeld-Zurückgeben grandios verrechnete, ging bei mir die Hutschnur hoch: ich ließ mir akribisch jeden Real vorrechnen und dachte in meinem Hinterkopf: wie schrecklich deutsch Du doch gerade bist!

Pissig aus Prinzip
Am nächsten Tag wollte ich zu eine Capoeiravorführung um 11 Uhr besuchen und hatte mich mit meinem kanadischen Mitbewohner Adam um 10:30 Uhr verabredet. Davor wollte ich "einfach mal nur" Geld abheben. Ein klassischer Trugschluss.
Wer hätte gewusst, dass mich die einfache Mission Geld abzuheben in den Wahnsinn treiben könnte! Ich stiefelte quer durch das Viertel. Entweder die Banken waren geschlossen (inkl der Geldautomaten), oder ich war mit der portugiesischen Bedienung der Maschine überfordert.  Ich stand kurz davor, mein Geld an irgend eine brasilianische Steuerbehörde zu überweisen, als Maria mir per Whatsapp endlich die richtigen Eingabeinformationen schickte. Das ganze Prozedere dauerte zwei Stunden; mittlerweile war es kurz nach zwölf. Mit dem Taxi ging es dann  Richtung altes Stadtzentrum – in Schrittgeschwindigkeit. Adam, gelassen. Ich tierisch gestresst und schuldbewusst. Tausende von Geschäftsverkäufer blökten in ihre Mikrophone, im Radio lief irgendwas von Whitney Houston. Wir stiegen abrupter Weise  aus, weil es zu Fuß genau so schnell ging – weiter also durch das touristische Zentrum.
Es geschah, was geschehen musste: gerade als wir ankamen, war das Capoeira Event vorbei. Adam reagierte gelassen – ich war pissig. Einfach nur so aus Prinzip, weil die Sache nicht so geklappt hatte, wie sie hätte klappen sollen. Dabei kam ich mir gleich doppelt lächerlich vor. Weil a) es eh nicht zu ändern war und b) die Capoeira-Schule auch am nächsten Samstag wieder eine Probe haben würde. Während Adam leichtfüßig den Heimweg antrat, kaufte ich mir ein paar Frustflipflops (die nicht richtig passten) und kochte mir etwas Urdeutsches: Bratkartoffeln. Gezielt ignorierte ich alle Limetten und Tropenfrüchte dieser Welt.

Caipirinha und brasilianische Schlager
Jesus und Popcorn – das passt für einige vielleicht nicht zusammen. Hier in Brasilien reicht sich Popkultur und Religion aber gerne mal die Hand. In der Altstadt St. Antonio fand diesen Samstag ein Volksfest statt. Die Kirche war grell angestrahlt, meterhohe Bilddrucke von Heiligen wurden stilecht mit LEDs verziert. Gefühlt war ganz Salvador auf den Beinen. Adam und ich erreichten das Volksfest gegen 22 Uhr und unterhielten uns über die sexuelle Selbstbestimmung von Superstars und Lady Gaga (Randnotiz: warum landen alle meine Gespräche in letzter Zeit irgendwann immer bei der Rolle des weißen, westlichen Manns? Ahhhh... mein Kopf explodiert!)
Ein süßlicher Geruch von Früchten, Alkohol und fettigem Imbiss lag in der Luft. Dazu Musik. Eine Mischung aus Raggae und Schlager. Wir schnappten uns zwei Caipirinhas, setzten uns auf einen der zahlreichen gelben Plastikstühle der Bierfirma Skol und beobachteten das bunte Treiben. Menschen von jeder Altersgruppe und von jeder Hautfarbe schlenderten an uns vorbei. Alle wirkten ausgelassen und es lag tierisch viel Sex in der Luft. Junge Mädchen donnerten sich bis zum Gehtnichtmehr auf .... es gab Rückenfreie Kleider, bei denen nicht mehr viel Kleid übrig war. Kerle präsentierten ihre Muskeln in kurzen Tanktops, Frauen präsentierten all ihre Kurven. Und oh, was das für Kurven waren. Dazwischen der schwule kanadische Tänzer Adam und die deutsche Kartoffel: ich.
Als unsere Unterhaltung sich immer mehr dahin entwickelte, dass ich als weißer Mann bestimmte Gender-Aspekte gar nicht ansprechen dürfte, weil ich nicht in der Lage wäre die Unterhaltung weg von meiner persönlichen Erfahrung zu dezentralisieren – schlug ich unauffällig vor, zur Tanzfläche zu gehen. Was für ein Anblick das war! Ältere Pärchen tanzten Salsa. Zahnspangenteenies hielten sich ihre Smartphones grinsend ins Gesicht. Kinder hopsten auf ihren Flip Flops hin und her. Und selbst der hinterste Muskelbobo hatte einen beachtenswerten Hüftschwung drauf. Inzwischen war es bereits 23 Uhr. Adam war die Musik zu ordinär – er drehte noch eine Runde. Ich fühlte mich pudelwohl. Auf der Tanzfläche bildete sich eine brasilianische Polonaise, ich wippte mit und grinste durch die Gegend. Das ist bei mir eher ungewöhnlich. Denn ich kenne Volksfeste aus der Heimat eigentlich nur als plumpe  Bratwurst/ Saufanlässe, die ich im großen Stil meide. Aber das hier war ... irgendwie anders. Hier schien es irgendwie wirklich ums gemeinsame Feiern zu gehen. Klar, der Alkohol floss in rauen Mengen, aber irgendwie lag eine festliche Ausgelassenheit in der Luft, die mich ganz natürlich mitriss. Da fühlte ich mich gar nicht mehr so sehr wie eine Kartoffel.

Als mich Adam Richtung Taxi manövrierte, ging ich erst nur widerwillig mit. Auf dem Weg durch die Altstadt besuchten wir noch ein Punkkonzert. Mit gefühlt 5 Gästen. Irgendwie passte diese lärmende Aggression nicht in die pittoreske Altstadt. Auf den Stufen saßen 2 Rastalocken-tragende Burschen und drehten sich in aller Seelenruhe einen Joint.

Im Taxi sitzend sinnierte ich über Caipirinhas und rückenfreie Kleider – da war kein Platz mehr für garstige Geldautomaten und lange Warteschlangen.







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