Herumstreunern für Anfänger



Mit dem Herumstreunern fängt alles an. Ich lasse mich von der Stadt inspirieren und suche nach markanten Orten, welche sich für meine künstlerische Umsetzung am besten eignen. Dieser Prozess ist tierisch anstrengend: der ständige Verkehr, die Lärmkulisse, die engen Bürgersteige, dazu noch mein leicht lädierter Fuß. Qualmende Busse. All das hagelt auf meine Wahrnehmung ein. Die ganzen Routinen aus meinem Alltag greifen hier nicht – ich sauge alle Eindrücke auf und fühle mich zurückversetzt in meine ersten Istanbul Tage.

Und da ist noch etwas: ich fühle mich ständig beobachtet.
Mal quatschen mich Straßenverkäufer an, mal versucht mir irgend jemand Marihuana anzudrehen. Mal werde ich mit einem freundlichen Blick gegrüßt, mal kalkulierend von Kopf bis Fuß gemustert. Immer scheine ich irgendwie heraus zu stechen, mir gelingt es einfach nicht mit dem Straßenbild zu verschmelzen. Das ist für mich ganz ungewöhnlich und ich muss mich erst einmal wieder daran gewöhnen, dass ich hier der "Hellhäutige" bin. Ich möchte eigentlich nur beobachten, bin aber gleichzeitig auch der Beobachtete. Wär' ich doch nur ein Chamäleon!

Sich kontrolliert verlaufen
Zuerst bewege ich mich nur auf Straßen, die von Fußgängern bevölkert werden. Aber Teil meiner Aufgabe ist es auch, mich in den Seitengassen und zwischen den Hochhäusern zu verlieren. Schon beginnt mein noch immer leicht verstauchter Fuß sich zu melden. Ich laufe zur nächsten Bank und lege mein Bein hoch. Wie ich die Umgebung so anschaue, wird mir die ambivalente Natur dieser Stadt erst so richtig bewusst: Einerseits wirkt sie ein wenig trostlos und dahin siechend: Koloniale Villen stehen wahllos zusammengewürfelt neben betonierten Hochhäusern – oft liegt ein modriger Schleier der Verwahrlosung über all den Fassaden.
Andererseits hat dieses Wuchernde auch etwas ungemein Lebendiges: Hier laufen die Telefonleitungen direkt durch die Äste von einem Baum und drohen sich mit diesem zu verknoten. Dort verschwinden mehrere Hoch-Geschosser im roten Lehmboden. Überall gibt es etwas zu entdecken. Der Blindenführungsstreifen ist mein stetiger Begleiter und windet sich wie ein falsches Versprechen über die Stolpersteine.
Die Stadt wirkt wie ein Dschungel, der sowohl in die vertikale- als auch die horizontale Richtung wuchert. Sie führt ihr Eigenleben und selbst die Bauarbeiter scheinen sie nicht zähmen zu können. Ganz im Gegenteil: sie selbst sind nur Handlanger des Chaos.

Scheinbar gibt es in der Stadt ein massives Drogenproblem: öfters taumelt mal eine abgemagerte Gestalt an mir vorbei und es lungern bemitleidenswerte Gestalten hinter Baukontainer im Schatten. Noch kann ich nicht richtig abschätzen, was oder wer wirklich eine echte Gefahr darstellt und wer nicht. Das versetzt mich in einen Zustand der Anspannung, denn natürlich möchte ich mir meine Unsicherheit auch nicht anmerken lassen. Es reicht für mich im Moment schon plötzlich keine Touristen oder flanierende Einheimische mehr zu sehen, um mich verloren und verwundbar zu fühlen. Daher sind meine Sinne auf gerade 360Grad Wahrnehmung eingestellt. Paranoid bin ich nicht – aber erschöpfend ist das schon.

Ein weiteres Problem
Die Grundlage für meine Arbeit ist (Papp)müll von der Straße. Aber dieser scheint hier heiß begehrte Ware zu sein. Weder in den Seitengassen, noch in den Mülltonnen kann ich ein paar anständige Kartons oder Papp-Fetzen finden. Überall kommen mir die Müllsammler und die Stadtreinigung zuvor. Für das Straßenbild ist das sicherlich schön – aber nicht für mein Projekt! Denn so kann ich schlichtweg nicht richtig anfangen.
Also muss ich mir etwas überlegen. Sollen wir Supermärkte anzurufen oder zu Recyklingmärkten fahren? Wenn ich dieses Problem nicht lösen könnte, müsste ich meine Arbeitsweise komplett umstellen.

Nach gut vier Stunden ist meine erste Stadtexpedition beendet. Bestimmt bin ich nur 10 Kilometer gewandert – gefühlt waren es aber mehr als 30. Ich lege mich in mein Bett – schließe die Fenster vor dem Lärm, der durch jede Pore in dieses Hauses hinein sickert. Schnell vergesse ich die Lautsprecherwagen, die Gewerkschaftsdemo vor der Haustür und das ständige monotone Rauschen der Belüftungsanlage.
Endlich Stille.





























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