São Paulo: Beatmacher und Favelasprüher


Oi! in diesem Blog ist es aber still geworden.
Das muss wohl daran liegen, dass zu viel passiert!
Letzte Woche war ich in São Paulo, hier ein Kurzabriss.
So viel sei erst einmal vorweg gesagt: die Zeit in São Paulo war für mich der Hammer!
Ich habe so viel erlebt, dass ich meine Finger überstrapazieren müsste, um Euch alles zu erzählen. Deswegen kommt hier schön übersichtlich nach Tagen die Zusammenfassung ....

Donnerstag
In Salvador habe ich am Flughafen in Salvador zum ersten Mal einen automatischen "Self-Check-In" Schalter bedient. Komisches Ding. Am Ende bekommt man einen labbrigen Quittonsbon ausgedruckt und das soll dann der Flugschein sein. Nach gut 3 Stunden Flug landete ich in São Paulo – und wurde direkt abgeholt vom Muralisten-Künstler Claudio Ethos (Sein Instagram Account). Claudio habe ich 2012 in Halle kennengelernt, wo ich ihm dabei half bei uns in Halle eine große Wand zu bemalen. Auch wenn ich ihn vor meinem São Paulo Besuch oft angeschrieben hatte, war ich mir bis zur letzten Minute nicht sicher, ob das alles wirklich klappen würde. Immerhin ist unsere letzte Begegnung jetzt schon 5 Jahre her. Aber tatsächlich – da stand er vor mir. Rastalocken, ein leicht ... rätselhaftes Gesicht (eine Mischung zwischen grimmig und mystisch) und empfing mich freundlich. Die Reise in die Innenstadt mit dem Airportbus dauerte geschlagene 2 Stunden. Ich dachte, Istanbul sei ein Häusermeer, aber São Paulo ist noch viel viel schlimmer. Da es keinenAnhaltspunkt in der Landschaft gibt, kommt man sich gleich von Anfang an orientierungslos und verloren vor. Aber auf eine gute Art!
Die Unterhaltung mit Claudio wirkte irgendwie ... gezwungen. Zwar bemühten wir uns beide, aber irgendwann gehen mir die gemeinsamen Themen aus. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis ich verstehe, wie dieser Kerl tickte. Wir gelangten zur  Metro – ich konnte kaum einen Platz zum Stehen finden. Claudio grinste mich an: "Was hast Du? Heute ist es noch gut. Warte mal ab, wenn Du zwischen 6 und 9 Uhr Abends hier lang fährst!" Er schleppte mich zu einem squat place, einem besetzten Haus. Da dachte ich natürlich gleich an eine alte bröckelige Baracke – aber weit gefehlt. Es handelte sich um einen eingeschossigen, offenen Betonbau. Der sah eher wie eine geschniegelte Galerie aus. Zahlreiche Hip-Hopper tummelten sich um Ihre Laptops und tauschten ihre Musik aus.
Ich fühlte mich sofort wohl und startete mit den Jungs eine kleine Session. Um uns herum rollten Skater auf dem glatten Asphaltboden. Einer der Hip-Hopper erklärte mir, dass dieses Zentrum hier sehenden Auges von den Behörden geduldet wird. "Sonst gibt's hier ja nichts zu tun – und Musik ist viel besser, bevor die Jugendlichen auf andere Gedanken kommen". Zu viert würden sie dieses Zentrum hier eigenständig erhalten und ausbauen, alles weitere ergebe sich dann organisch.
Einer der Urgesteine dieses Clubs nahm uns dann mit seinem Van nach Hause. Seine zwei Töchter alberten mit Claudio herum – der plötzlich total viel lachte und sehr offen war. Ich schaute nach links aus dem Fenster und erblickte eine der längsten bemalten Freiluftgalerien, die ich jemals gesehen habe. Ganz ehrlich, die bemalte Berliner Mauer war ein Witz dagegen. Geschlagene 15 Minuten lang wechselten sich auf der Wand die verschiedensten Bilder ab ... mit einer technischen Fertigkeit, die ich zuvor noch nicht gesehen habe.

Als wir dann Abends in seine Wohnung gelangten, war ich etwas ernüchtert. Dieser Typ – dieser in meinen Augen große Künstler – lebte in einer kleinen, muffigen, puristischen Zweiraumwohnung mit 2 kleinen Fenstern und einer niedrigen Decke.  An  allen seinen Wänden hingen unfertige Bilder – es gab keine Couch. Der Kühlschrank war leer, bis auf eine angefangene H-Milch. Nicht einmal ein Esstisch! "Ach ja – und benutze bitte nicht das Waschbecken im Bad, sonst muss ich das wieder aufwischen". Na toll. Ich schlief also in meinem Schlafsack auf dem Kachelboden und hörte durch die dünnen Betonwände hindurch das lebhafte Treiben der Nachbarn. Und ich meine wirklich das lebhafte Treiben, wenn ihr versteht, was ich meine. Aber seltsamer Weise fühlte ich mich sofort zu Hause – mehr noch als in meinm vollklimatisierten Zimmer in Salvador. Das hier wirkte irgendwie ... echter. Während ich auf dem Boden lag, las Claudio shweigsam seine Emails. "Ach so, ein Handy habe ich übrigens auch nicht. Entweder Du rufst mich per Haustelefon an, oder schreibst mir eine Email".


Freitag
Am Freitag begrüßte mich Claudio mit einem Cafe. Neugierig beäugte ich ihn, wie er denn ohne Tisch nun sein Frühstück einnehmen würde. Die Antwort war eher unromantisch: im Stehen und am Laptop. Nach zwei Tüten am Morgen (die mir ein leicht schwebendes Gefühl gaben) schleppte er mich durch die Stadt. Claudio lebt mitten im japanischen Viertel Liberdade – eines der größten japanischen Gemeinschaften außerhalb Japans. Aber verdammt ist São Paulo kalt! Hätte ich nicht noch einen Pullover und eine lange Hose eingesteckt, hätte ich in diesem Moment ziemlich alt ausgesehen. Wir nahmen den Bus und eine Metro. Es folgten wieder stockende, leicht gezwungene Unterhaltungen. Fotografiert werden wollte er auch nicht. Aber langsam gewöhnte ich mich daran.
Endlich gelangten wir in ein Viertel in der Peripherie. Es grenzte an eine Favela an. Dort hatte Claudio  seine Kindheitsjahre verbracht. Wir liefen an zwei offenen Evangelischen Kirchen vorbei, die laut tösend die Gläubigen hineinlockte.  Er knurrte: "Die neuen Kirchen gab es plötzlich seit den 90ern in unserem Viertel. Seit dem es hier mit der Wirtschaft abwärts ging. Dann suchen Leute nämlich nach einfachen Antworten. Die Evangelisten sind am schlimmsten. Die Versprechen den wildesten Mist und kassieren ordentlich Geld ab". Wir liefen Richtung Favela. Überall gab es bunte Graffitis an den Wänden und Kinder, die Drachen stiegen ließen. Schon wollte ich ein paar Fotos der technisch ausgereiften Bilder machen, da ermante mich Claudio: "Lass das mal lieber. Viele der Leute die hier vorbei laufen sind Dealer. Die mögen es nicht gerade, wenn Du sie fotografierst".
Seit es den neuen Bürgermeister gibt, seien hohe Strafen auf Graffitis ausgesetzt worden. "Wirst Du von der Polizei erwischt, musst Du 5000 Rhei bezahlen (umgerechnet 1400 Euro)." "Manchmal nehmen sie auch die Sprühdose und sprühen in Dein Gesicht und verprügeln tun sie Dich sowieso." "Hier in der Favela ist das anders. Hier gibt es keine Gesetze, hier kann jeder sprühen." Tatsächlich gab es sogar einige Wände, die feinsäuberlich mit Favela-Galerie beschriftet wurden. Claudio: "Diese Wände sind für Künstler freigehalten. Das ist so etwas wie ein soziales Projekt." Während wir so durch die Favela schlenderten, fühlte ich wie in einem Abendteuerspielplatz. Nur sahen mich die Kinder anders als auf einem Spielplatz mit diesem durchdringenden Blick an, der mir einen leichten Schauer über den Rücken jagte.
Claudio erzählte mir etwas über seinen künstlerischen Werdegang. In Brasilien sei es ganz natürlich mit dem Sprühen anzufangen. Es gäbe große Vorbilder, den viele Kinder nacheifern. Erst male man kleinere Aufträge und dann ergeben sich die nächsten Schritte ganz von selbst.  Er selbst habe als Pixação angefangen, die internationalen Aufträge verhielfen ihm dann zum Durchbruch. Zwar gäbe es hier einen Wettbewerb zwischen den Künstlern, da aber alle die gleichen sozialen Verhältnisse teilten, gäbe es kaum Missgunst. Keiner übersprüht die Bilder der anderen. "Wir haben hier einfach schlimmere Dinge, um die wir uns kümmern müssen, als uns über die Realness Gedanken zu machen"
Wenig später stellte mich einem seiner Künstlerfreunde Quinho (Sein Instagram Account) vor, der  in einem verwinkelten Haus mitten in der Favela lebt. Sein kleines Atelier war  vollgestopft mit Künstlern. Darunter seine (sehr hübsche) Frau, die Schmuck bastelte. Natürlich zeigten wir uns gegenseitig erst einmal unsere Instagram Accounts. Das ist hier die Vorzeigeplattform Nummer 1 – von Portfolios und Webseiten haben hier noch nicht viele was gehört. Quinho ist ein schlacksiger Typ. Ein unglaublich begabter Illustrator und Graffitikünstler. Er zeigte uns stolz kleine Portraits, die er von brasilianischen Politikern gemalt hatte. Alle wunderbar realistisch karikiert. Der President Temer sah aus wie eine Mischung aus Buttler, Ratte und Haifisch. Wirklich wirklich finster.
Quinho hatte ein italienisches Malereibuch in der Hand und interpretierte eine klassische Szenen neu: In einem düsteren Verließ werden Favelakinder von höhnischen Polizisten verprügelt. Über das Gesicht der Polizisten ist dilettantisch ein Smiley gesprüht. Alle weiteren Bilder von ihm sehen ähnlich düster und brutal aus. Dennoch, nichts davon wirkt aufgesetzt ... vielmehr scheinen die Bilder eine überspitzte Verarbeitung Ihrer Erfahrungen zu sein, das spürte ich irgendwie.
Gemeinsam schlenderten wir durch die Favela zu einer bemalten Garage.  Dargestellt waren zwei Kinder mit Sturmgewehren und Müllsäcken als Kopf. Sie grinsen. Quinho nimmt eine Rolle mit roter Farbe in die Hand und überstreicht die Waffen. Gestern sei die Polizei hier vorbei gekommen und hätte den Eigentümer des Hauses ermahnt. Der sei selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt und würde daher gern auf einen weiteren Besuch der Polizei verzichten. Ein schwarzer Mercedes fährt an uns vorbei. Wir unterhalten uns über die Mafia. Angeblich gäbe es in den Favelas keine Kämpfe mehr, weil die Mafia die Gebiete weiträumig kontrolliert. Sie seien manchmal mehr "beliebt" als die Polizei, da sie im Gegensatz zu dieser nicht dumpf Leute verprügeln würden. Warum Quinho in der Nachbarschaft bleibe? "Weil ich hier mehr Freiheit habe als anderswo." Hier würde alles eher  unter der Hand geregelt. Nur, dass viele der Bewohner so materiell eingestellt seien, störe Ihn. "Die gucken auf die Marke Deiner Schuhe und geben ein Scheißgeld für diesen Kram aus. Für mich zählt das nicht gerade sehr viel". Quinho ludt uns zum Essen ein. Claudio versuchte mich von einem deutschen Bier zu überzeugen. Und siehe da, schon wieder plauderte Claudio locker und gelöst ohne Punkt und Komma. Ich wurde aus diesem Kerl einfach nicht schlau! Die zweite Nacht auf den Fliesen fühlte sich schon viel bequemer an. Claudio war nun wieder schweigsam wie ein Bär, aber daran störte ich mich nicht mehr. (Und sieh an, das hat sich sogar gereimt.)

















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