São Paulo: Bubbletea und eine Fast-Favela Party

Samstag
Als ich von meinen wirren Fliesenträumen erwachte, grinste mir Claudio ins Gesicht und fragte: "Na, hast Du heute Abend Lust auf eine Favela-Funk-Party?" Im Halbschlaf stellte mir Gitarren und fonkey Drum-Grooves vor. Doch weit gefehlt.

Claudio zeigte mir einen Youtube Film. Darin rannten ein paar Halbstarke durch eine Bruchbude und streckten stolz halbautomatische Gewehre in Richtung Kamera. Die minimalistische Musik bestand aus verzerrten erlektronischen Sambatrommeln und Synthies, die man getrost als Haifischzahnseide bezeichnen darf. "Die Party ist bestimmt voller Krimineller und Drogendealer. Und wenn es ganz gut läuft, dann kommt irgendwann die Polizei mit Knüppeln und Tränengas vorbei und räumt den Laden." Er lacht: "Die Favela Partys sind dreckig und legendär! Ich möchte doch sicher gehen, dass Du hier ein authentisches Brasilien-Erlebnis hast!" (Hier ein vergleichbares Video )

Die japanische Miniwelt in São Paulo
Schon hatte er seine Schuhe angezogen und drehte ungeduldig am Türknauf. "Los, lass uns mal eine Runde um den Block drehen, ich zeige Dir mal mein Viertel!". Unser erster Stopp war eine italienische Bäckerei. Endlich einmal wieder knackiges Brot und guter Käse! Danach führte er mich an der Crack Alley vorbei, in der sich träge schlurfende Gestalten auf versifften Matratzen tummelten. "Da kann die Polzei nicht viel dagegen unternehmen. Wenn es den Leuten mies geht, dann möchten sie von dieser Welt flüchten. Und dann landen sie irgendwann hier." Liberdade ist ein Viertel, in dem  sehr viele japanische und chinesische Immigranten leben. Wir besuchten einen japanischen Buchladen (ich sag nur: Blumiger Fotoband von Leonardo di Caprio auf japanisch) und einen großen Gemüsemarkt. Auch ein Cosplaytreffen (das sind Leute, die sich wie Charaktere aus Mangas kostümieren) an der Ubahn durfte natürlich nicht fehlen. Wir trafen Claudios Exfreundin F. (sehr hübsch), welche als Tonaufnehmerin beim Film arbeitet. Gemeinsam besuchten wir einen Einkaufshalle in der es ausschließlich japanische Produkte zu erwerben gab. Plastik Mangapuppen,  Manga-Tshirts, Kimonos, Manga-Videospiele, Plüschpokemon. Wäre ich noch 15, dann wär das hier das Paradies gewesen.  Claudio besaß keinen einzigen Pullover, deshalb ließ er sich dort einen anfertigen. Er zeigte auf ein Comic-Motiv in einem Katalog, welches dann wenig später per Heißklebefolie auf den Pullover angebracht wurde. Ich verkniff mir ein Lachen denn diese bunte Comicfigur wirkte übelst urkomisch an diesem großen, verwegenem Mann.

Um unser Erlebnis abzurunden, besuchten wir eine Bubble-Tea Bar und einen japanisches Eisgeschäft. Ich bestellte grüner Tee Eis, was in eine Art ... Eiswatte gepackt war. Auf dem Bildschirm hüpften perfekt kostümierte Mädchen zu irgend einem J-Pop Video über den Bildschirm. Das alles kam mir wie eine Parallelwelt vor (unten sind ein paar Fotos). Als es Zeit wurde sich von F. zu verabschieden, tranken wir noch kurz einen Cachaça. Das war gewissermaßen der Aufzug zurück nach Brasilien. "In 30 Minuten kommt meine Freundin vorbei." Offenbar erkannte er meinen leicht sarkastischen Blick und erwiderte: "Ja ja, es ist auch für mich ein bisschen komisch, von einem Mädchen zum anderen zu gehen. Aber F. und ich verstehen uns wirklich sehr gut. Wir sind inzwischen wieder so etwas wie beste Freunde." Um sich für sein Date aufzuhübschen, besuchten wir gemeinsam noch einen Barbier. "Die machen hier die besten Fades, ich schwöre!" Wenige Minuten später hantierte der Barbier mit einem Rasiermesser an meiner Kehle herum. Sichtlich stolz – offenbar war ich hier der erste Deutsche. Währenddessen starrte ich auf einen Bildschirm, in dem gerade die neuste Telenovela gezeigt wurde. In diesem Moment war ich tatsächlich sehr glücklich und fühlte mich schon ein bisschen wie ein halber Brasilianer!

Claudios aktuelle Freundin M. war Brasilianierin mit japanischer Abstammung und  – wer hätte das gedacht –  sehr hübsch. Ich war plötzlich sehr, sehr neidisch. In ihrem grauen, mit getönten Fensterscheiben ausgestattetem Auto cruisten wir im Dämmerungslicht durch die Innenstadt von São Paulo. Die beiden knutschten schrecklich viel herum. Subtil versuchte ich Ihnen vermitteln, dass ich gerade eine Trennung hinter mir hatte und das bewirkte: gar nichts. In einer japanischen Tapaz Bar (eine bessere Bezeichnung ist mir gerade nicht eingefallen) setzten wir uns und bestellten hauchdünnes Schweinefleisch. Ich auf der einen Seite, das Turtelpaar auf der anderen. Wir tranken viel Sake. Und dann noch mehr Bier. M. erzählte mir, dass sie die Direktorin einer öffentlichen Schule sei und sich täglich mit der wirren Bürokratie São Paulo herumschlagen müsse. Das Wunder geschah erneut – Claudio wurde plötzlich sehr locker und gesprächig und unterhielt uns mit seiner ganz eigenen Art von Humor: er setzte ein toternstes Gesicht auf, machte eine finstere Behauptung – ein kurzer Moment der Stille – und brach kurz darauf in ein Lachen aus: "War nur ein Scherz!". Anfangs fiel es mir zugegebenermaßen etwas schwer darüber zu lachen.

Die Fast-Favela-Party
Leicht angeheitert fuhren wir gegen 11 zur Favela. Bassige Hip-Hop Musik dröhnte durch die Autoboxen. An uns zogen Betonpfeiler unzähliger Unterführungen und Überführungen vorbei. Überall Graffiti. Megacool. Die Favela ähnelte einem großen Labyrinth und wirkte auf den ersten Blick wie eine Stadt in der Stadt. Überall gab es Straßenverkäufer, Kinder, jugendliche Mädchen in Fenstern, die auf Kaugummis kauten. Dann ein großes Banner über der Gasse. Claudio übersetzte: "Die Party heute wird abgesagt, weil sich beim letzten Mal zu viele der Gäste respektlos verhalten haben." Mist. "Aber lass uns mal schauen, hier gibt's meistens irgendwo eine Party, das wird schon." Also schlenderten wir weiter. Irgendjemand hatte aus ein paar alten Brettern einen Billardtisch zusammengenagelt. Aus übereinander geschnallten Boxen dröhnte laut Raggae Musik. Frauen mit üppigen Kurven und hagere Kerle mit gekrümmter Haltung bewegten sich kreisend zum Takt. Eine Ratte kroch durch irgend ein Abflussrohr. Ich kam mir plötzlich wie in einem klischee besetzten Ganster-Rap Video vor. Wir gesellten uns dazu und beobachteten das Treiben.
Als sich eine finstere Figur schlurfend durch uns hindurch in eine finstere Gasse schob, bemerkte Claudio nebensächlich: "Der Typ hat wahrscheinlich eine Knarre unterm Tshirt. Das erkennst Du an der großen Wulst. Manchmal haben sie die auch hinten in die Hose gesteckt, dann siehst Du sie natürlich nicht so leicht. Aber kein Problem, Hauptsache Du bewahrst hier Haltung. Und starr die Leute bloß nicht zu lange an, das könnte verdächtig wirken." All das drang gar nicht zu mir durch, denn ich kam mir vor, wie auf einem großen Abendteuerspielplatz. Diese vielen Farben und die verwinkelten Häuser. All das hatte etwas seltsam Vertrautes an sich. In einer Bar bestellten wir uns ein Getränk, während drei Kerle in aller Öffentlichkeit genüsslich eine Line Koks auf dem Spiegel zogen. Das Getränk stellte sich später als verheerend heraus: eine Mischung aus Whiskey, Kokusnussmilcheis und Red-Bull. Dann noch ein Bier. Und dann noch einen dieser Drinks. Angeheitert torkelten wir an einem Krankenhaus vorbei, dass sich mitten in der Favela befand.

Schon gelangten wir zur Feiermeile. Aus zwei offenen Clubs dröhnte parallel Latino-Tanzmusik. Immer wieder fuhren Kerle in knatternden getunten Autos vorbei oder rasten in Motorrädern haarscharf an der Menge vorbei. Es roch nach Fleischbraten, süßlichem Alkohol und salzigem Popkorn. Mir wurde ein weiteres Bier gereicht und schon befand ich mitten auf der Tanzfläche. Was soll ich sagen, das Bild dort entsprach genau dem was ich erwartet hatte: tausende von Kurven. Leider waren viele Mädchen viel zu jung mit viel zu knappen Stofffetzen bekleidet. Der DJ spielte drei Minuten lang einen Song, brach die Musik dann abrupt ab – schrie irgendwas in das Mikrophon  – und setzte dann den nächsten Track an. Aber das störte mich in meinem Zustand überhaupt nicht mehr. Ich bemerkte nicht einmal, dass ich meine Klamotten langsam auszog und irgendwo in der Landschaft verteilte. Und ich bemerkte auch nicht mehr, dass Claudio mit seiner neuen Perle die ganze Zeit wild herumknutschte. Nur dass mit dem Kennenlernen anderer Frauen war leider nicht ganz so einfach, wie ich mir das in meiner Fantasie gedacht hatte.
Kaum näherte ich mich einer Frau, tauchten plötzlich von irgendwo her mit Muskeln bepackte und dicken Bling-Bling Ketten behangene Kerle auf. Claudio bemerkte scherzhaft: "Junge, das hier ist wie ein Dschungel, hier musst Du schon ein bisschen um die Frauen kämpfen!" Ich als zahmes Weißbrot war ich damit allerdings ein bisschen überfordert, auch wenn mir F. später komplimente über meine Forro-Tanzkenntnisse machte. Wie bitte? Ich hatte Forro getanzt? Mit wem? Und wann? Und wo ist eigentlich mein Pullover? Claudio zwinkerte mir nur zu: "Yeah, man. You really like to get down, I see that now."

In ästhetisch ansprechenden Schlangenlinien bewegten wir uns am Ende des Abends zurück zum Auto. M., die zum Glück verantwortungsbewusst war und sehr viel weniger als wir getrunken hatte, fuhr uns sicher und gelassen nach Hause. Auch dann noch, als Claudio ihr leidenschaftlich am Nacken herumnibbelte. Als wir wieder in der Wohnung ankamen, schrieb ich im Vollsuff peinliche Nachrichten auf Facebook, von denen ich schon im gleichen Moment wusste, dass ich sie am nächsten Morgen bereuen würde. (Es sollte eine Automatische Sperre dafür geben – aber die müsste erst einmal jemand erfinden!) Aber was sollte ich auch tun – diesmal kam das wilde Treiben nicht nur von oben durch die Betondecke, sondern auch vom Zimmer nebenan.

Sonntag
Den Sonntag verbrachte ich hauptsächlich damit auszunüchtern und mich nicht zu übergeben.
Nie wieder dieser ... Whiskey .... Kokusnuss ... Redbull Komibination! Und vorallem nicht drei hintereinander! Düster erinnere ich mich, dass Claudio und ich über einen Gemüsemarkt liefen und ich wahllos irgendwelches Gemüse für einen Salat kaufte. Dass ich Limetten-Zuckerrohrsaft trank und wir am Nachmittag ein Kurzfilmfestival mit F. besuchten. Sogar einen Comicladen, in dem ich ausdauernd nach einem bestimmten Buch suchte. Claudio schleppte mich zu den hippen Vierteln der Innenstadt. Er trug jetzt eine schwarze Sonnenbrille im Dunkeln und sah aus wie ein Agent. Es war schweinekalt. Hippe Skater mit hippen Tattoos schlenderten durch hippe Läden. Claudio gestand mir, dass er hier nie freiwillig hingehen würde.
Am späten Abend war ich langsam wieder nüchtern.













































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